Die tausend Gesichter des Vampirs 

oder die ewige Auferstehung Draculas aus Gräbern, Romanen, Film- und Theateradaptionen

 

Er ist nicht tot zu kriegen! Was hat man nicht schon alles mit ihm angestellt? Das Repertoire seiner Todesarten ist mannigfaltig und jede einzelne verspricht das Böse ein für alle mal zu tilgen.

Man köpfte, zerstückelte und verbrannte ihn; stopfte ihm Dreck und Knoblauch in den Mund; man trieb ihm hölzerne Pfähle durch die Brust und begrub ihn unter schweren Steinen; man erdolchte ihn mit silbernen Messern und jagte ihm geweihte Kugeln in den Wanst. Bei dieser Fülle an Grausamkeiten ist man fast versucht, das Monster nicht auf Seiten des Vampirs, sondern des Jägers auszumachen... aber natürlich: es geschieht ja für die gute Sache und für die Erlösung der armen Seelen. Davon ist auch der Vampirjäger Van Helsing aus Bram Stoker´s Roman „Dracula“ – ein aufgeklärter Mann der Wissenschaft – überzeugt, als er drei junge, attraktive Frauen im Schloss Dracula in Transsylvanien pfählt und enthauptet. Eine grausige Arbeit, aber sie muss verrichtet sein... und bei Gott! Ihr seliges Lächeln in dem Moment, da der Pfahl des großen Gelehrten in sie eindrang, versicherte ihn seiner guten Tat. Tja, Mr. Stoker... bei so viel genussvolle Rechtschaffenheit wäre es doch schade, wenn an dieser Stelle mit der Vampirjagd Schluss gewesen wäre. Zu verführerisch wirkt der Odem des Vampirs über seinen scheinbaren Tod hinaus auf die Lebenden, die in dessen Schatten verlockende Attribute ahnen: erhöhte Vitalität, moralische Ungebundenheit, starke sexuelle Anziehungskraft. Nachdem im bigotten Korsett des viktorianischen Englands die dunkle Romantik des Vampirs zum Wohl des Seelenheils ausgemerzt werden musste, bieten uns heute die Segnungen der Popkultur die Zuflucht ins Zwielicht.

 

Wer hat noch nicht, wer will nochmal?

 

Schon im 15.Jh. war es groß in Mode, dem walachischen Kleinfürsten Vlad III, genannt Drăculea geradezu drakonische Gräueltaten anzudichten, wie es der Berufspoet Michael Beheim im Spiel um die Macht der damals Herrschenden praktizierte. So veröffentlichte er den ob seiner expliziten Gewaltdarstellungen sehr populären Propagandatext: „Von ainem wutrich der hies Trakle...“ .

 

Gerade in der jüngeren Vergangenheit boomt der Vampir erneut medial. Neugeboren steht er wieder da, vor den faszinierten Sinnen der wohlig-schaudernden Anwärter auf Teilhabe an seinem finsteren Zauber. In zahlreichen Neuverfilmungen und Serienadaptionen, Romanreihen und Comic-Novellen erforscht man den Vampir in allen Lebenslagen, gesellschaftlichen Kontexten und Identitätsmustern. Ein dunkles ICH, das nicht an gesellschaftliche Normen gebunden ist.

 

In diesem Jahr wird eine Neuverfilmung des Nosferatu-Stoffes auf die Leinwand kommen. Letztes Jahr wurden mit "Die letzte Fahrt der Demeter" und "Renfield" gleich zwei Detailaspekte Bram Stokers Roman „Dracula“ filmisch verwertet. Mit Francis Ford Coppola, Wes Craven, der Kult-Trash-Schmiede Hammer-Film und - allen voran - dem Großmeister des deutschen Stummfilms, Friedrich Wilhelm Murnau, haben zahlreiche Filmemacher mit dem Motiv des Grafen Dracula gespielt, sodass man heute leicht von den „tausend Gesichtern des Vampirs“ sprechen kann. Auch das Theater legt nach: Anfang 2024 lief am Burgtheater in Wien eine Theateradaption des Stummfilmklassikers Nosferatu.

Was eine gute Geschichte eben ausmacht, sind ihre ikonischen Figuren und zeitlosen Motive, die man getrost in jede andere Zeit und jedes andere Setting versetzen kann und die Geschichte funktioniert nach wie vor. Friedrich Wilhelm Murnau gab ein erstes Beispiel, wie frei mit den Figuren Stokers umgegangen werden kann, ohne die Essenz der Ursprungserzählung zu verlieren. Die, nebenbei bemerkt, eben auch nur eine Adaption wesentlich älterer Motive, Mythen und historischer Anekdoten ist, an denen sich wiederum Bram Stoker bediente. Der Vampir war schon immer ein Spiegel seiner Zeit und seine Ursprünge reichen zurück bis in die Antike. 

 

Der Arzt und der Vampirjäger

 

Der literarische Professor Van Helsing ist wahrscheinlich der beliebteste Vampirjäger der Geschichte. Fast könnte man ihn selbst für einen Wiedergänger halten, so oft durfte er in Romanen, Comics,Filmen und Serien reinkarnieren – mal als alter Gelehrter, dann als Actionheld, als attraktive Vampir-Killerin und jüngst auch als Nonne auf Netflix. Der gute Mann steht seinem Kontrahenten, der sich wiederum in Nebel und Fledermäuse verwandeln kann, in nichts nach. Fast alle Inkarnationen eint der Hass auf den Grafen und ihr Schwur, das Böse um jeden Preis zu vernichten.

 

Einen etwas anderen Eid hatte Professor Van Helsings lebendes Vorbild, der Arzt Gerhard van Swieten, abgelegt. Als Leibarzt war der Niederländer niemand geringerem verpflichtet als der Kaiserin Maria Theresia. Als führender europäischer Gelehrter, Anatom und Medizinprofessor erhielt er von oberster Stelle den Auftrag, sich mit dem Vampyr-Aberglauben auseinanderzusetzen. Vom Klerus befeuert und lange Zeit geduldet war durch den Vampirglauben zuletzt eine Welle der Panik über das Land gerollt und hatte zu einer Reihe verwüsteter Friedhöfe und geschändeter Gräber geführt. Unter Van Swieten wurden nun Nachweise für die Umtriebe der blutsaugenden und Krankheit verbreitenden Untoten gesucht. Das Ergebnis war ernüchternd: alles war natürlich erklärbar! Wachsende Haare und Fingernägel bei frisch Verstorbenen waren mittlerweile in wissenschaftlichen Kreisen kein Mysterium mehr und wie die Leichengase auch einen Toten noch feist und gedunsen erscheinen lassen konnten, war hinlänglich bekannt. Keine Indizien für magia posthuma, also – Zauberei nach dem Tod! Sehr enttäuschend für alle Hetz-Prediger und Vampirjäger.

Doch deren Fantasien waren bekanntlich noch nie Grenzen gesetzt. Auch der 1755 verabschiedete Vampyr-Erlass, der die Verbreitung des Vampir-Aberglaubens unter strenge Strafe stellte, konnte die Menschen nicht daran hindern, sich Geister und Dämonen in Angst und Unwissenheit vorzustellen. Berichte von Vampir-Pfählungen und Enthauptungen reichen weit bis ins 20. Jahrhundert hinein.

Warum nun dieses Stück?

 

Was aber reizt mich an der Neuinterpretation eines Klassikers wie Dracula? Warum kann ich die Geschichte, nicht so wie sie ist, belassen? Nun ja: die bloße Wiedergabe der Originalgeschichte wäre nur die eintausendundeinste Wiederholung einer längst bekannten Geschichte und weder für mich als Theaterschaffenden noch für das Publikum besonders spannend. 

Jede neue Interpretation Draculas war immer ein Spiegel ihrer Zeit: In Bram Stokers Roman bildet er den Kampf einer aufgeklärten, wertegeleiteten, modernen Gesellschaft gegen die finsteren Einflüsse des Aberglaubens ab. In Nosferatu greift Friedrich Wilhelm Murnau mit dem Pest-Motiv im Film die verheerenden Eindrücke der Spanischen Grippe-Epidemie nach dem ersten Weltkrieg auf, denen Hunderttausende zum Opfer fielen. 

 

Heutige Film- und Serienadaptionen spielen mit sexueller Identität, toxischer Abhängigkeit und Ausgrenzung. „Vampir“ wurde zum Mode- und Lebensstil einer Subkultur, wie „Gothic“. Die Anhängerschaft des Grafen wächst immer noch ungebrochen.

 

Ein Theaterautor, der diesen Roman des späten 19. Jahrhundert zeitgemäß auf die Bühne bringen will, muss nicht lange nach Motiven suchen: Der alte Gelehrte Van Helsing mit dem Pfahl als rechtschaffende Leitfigur hat sich überholt und taugt nicht mehr; er ist älter und gutmütig geworden und leidet an beginnender Demenz. Der neuen Zeit ist er nicht gewachsen.

Dracula verführt heute durch eine Unzahl von „Influencern“. Heute „influenced“ uns immer irgendjemand – sei es modisch, politisch, den Lifestyle betreffend. In einer Zeit wie der unseren, da alles sich um Individualität und Persönlichkeitsentwicklung zu drehen scheint, sind Einflüsterungen aller Art omnipräsent. Sie raunen uns zu, welches Muster wir erfüllen müssen, um zu genügen, zu gefallen, richtig zu sein. Die Angst, die Kontrolle über unser Leben zu verlieren, ist stets vorhanden. Wer hat recht, wer spricht die Wahrheit? So ist es verführerisch, sich darauf zu verlassen, dass ein von uns selbst erwählter Einflussnehmer weiß, was er tut. Beruhigt übertragen wir ihm sämtliche persönliche Verantwortung. Sein Selbstbewusstsein wird das unsere. An seiner Strahlkraft dürfen wir teilhaben. Ihm folgen wir. Wenn solche Einflüsterungen mal nicht eines wahren Draculas würdig ist!

 

Komme was da wolle... bis heute hat es der Graf noch immer geschafft, sich selbst neu zu erfinden und gestärkt wiederaufzuerstehen. Ob ihm das auch in diesem Sommer in Murnau gelingen wird? Darüber darf das geneigte Publikum entscheiden. 

 

Max Pfnür

Zur Person Max Pfnür

 

Max Pfnür stammt aus Bad Reichenhall und lebt heute in Salzburg. Ab 2005 absolvierte er sein Schauspielstudium am Schauspielhaus Salzburg und war von 2009 bis 2012 fester Teil des Ensembles. Seither ist Pfnür freischaffender Schauspieler und Theatermacher. Beim Garmisch-Partenkirchner Kultursommer spielte er ab 2013  und war viele Sommer lang in zahlreichen Stücken zu sehen. 2016 spielte er erstmals bei den Horváth-Tagen in Murnau. In Salzburg produzierte und inszenierte er seit 2012 eigene Stücke in der Off-Szene Salzburgs. Zusammen mit der Gruppe Theater Offensive baute er ab 2016 das OFF Theater Salzburg auf. Mit dem Regisseur Georg Büttel realisierte er viele erfolgreiche Eigenproduktionen. Seit 2019 gastiert Max Pnür regelmäßig am Teamtheater und am Hofspielhaus in München. 2021 veröffentlichte Pfnür sein erstes Hörspiel auf der Plattform SpielWerk – das Salzburger Hörspielportal. Seit 2013 wirkt er zudem als Trauerredner in  Salzburg und Umgebung. Im Jahr 2019 fragte das Freie Theater Murnau an, ob er eine Theaterfassung von Bram Stokers Roman „Dracula“ schreiben würde. Die Freilicht-Aufführung vor dem Murnauer Schloß war für 2020 vorgesehen und wurde wegen Corona mehrfach verschoben.

 

Im Sommer 2024 ist es endlich soweit. Der Sommer steht für Pfnür ganz im Zeichen des Vampirs. Eine wunderbar schaurige Aufgabe.

 

Abbildungen: Wikipedia und Wikimedia Commons


Draculas Verwandte im Stück 

Lamia, Stryx, Empusa und Vrykolaka

 

Bram Stoker hatte in seinem Roman ursprünglich eine geheimnisvolle Vampir-Gräfin als Gegenspielerin zu Dracula vorgesehen, diese Idee aber nicht weiterverfolgt. Welches Gegengewicht zu Dracula hätte sie im Roman einnehmen können? Dieser Frage gehen wir unter anderem in unserem Stück nach. Mit ihrem dämonischen Gefolge wird die Gräfin unser Schloß in Murnau besuchen. Darunter einige weibliche Vampirgestalten aus der griechisch-römischen Mythologie wie die schlangenartige Lamia, die gestaltwandelnde Empusa, der lockende Nachtvogel Strix und die wolfsartige Vrykolaka. Sie alle trieben sich be-

reits blutdürstend durch antiken Nächte und fanden darüber hinaus Eingang in die südost-europäische Folklore. 

Sie symbolisieren die Angst vor dem Unerklärlichen - vor Halbwesen und wiederkehrenden Verstorbenen, die weder tot noch lebendig, sondern „untot“ sind. Der Glaube, dass Wesen aus dem Jenseits in unsere Welt eingreifen können ist uralt und tief verwurzelt. 

So kam über die Jahrtausende hinweg eine illustre Geschwisterschar an Halbwesen zusammen. Könnte es nicht sein, dass es sich bei den oben genannten Nachtmahren um die großen, älteren und vielleicht mächtigeren Schwestern unseres Lieblingsvampirs handelt?