Die kleine Eiszeit
Kupferstich von Franz Johann Joseph von Reilly, 1791
Am 2. Januar 1565 trug die Flut ein unerhörtes Natur- schauspiel mitten in den Hafen von Rotterdam. Ein riesiger Eisberg schob sich innerhalb einer Viertelstunde
vom Meer auf das Land zu und begrub mehrere Gebäude im Hafen unter sich.
Einen Eisberg hatte das damals noch kleine nieder- ländische Städtchen Rotterdam noch nie gesehen, und doch war es nur eines von immer mehr natürlichen Ereignissen, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahr- hunderts nicht nur in Europa eine wachsende Anzahl von Menschen fühlen ließen, die Welt sei ihnen fremd geworden. Die Jahreszeiten verschoben sich. Die Winter wurden länger und brachten harten Frost, die Sommer waren häufig kurz, verregnet und kühl. Geschichten über die bitterkalten Winter kursierten über den gesamten Kontinent. Vögel fielen erfroren aus der Luft, die Wein- rationen froren ein, Soldaten sägten sie von großen Eisblöcken ab. Gletscher dehnten sich aus und zer- malmten Höfe und Dörfer. Sogar Mittelmeerhäfen wie Marseille, Venedig und Istanbul waren mehrmals für den Schiffsverkehr unerreichbar, weil sie bis in den Mai hinein zugefroren waren.
Die sogenannte Kleine Eiszeit, deren Vorbote der Eisberg im Hafen von Rotterdam gewesen war, hatte weitrei-chende Konsequenzen. Ein Temperaturabfall von durch- schnittlich zwei Grad Celsius verursachte nicht nur bittere Winterkälte. Die Veränderung von Wettersystemen, Meerestemperaturen und Niederschlagsmustern traf besonders die Landwirtschaft hart. Für die Europäer, die größtenteils von lokalem Getreideanbau lebten, war das eine Katastrophe. Zwei Grad Temperaturunterschied entsprechen fast drei Wochen Vegetationsperiode. Immer häufiger wurde das Getreide nicht rechtzeitig reif und verrottete noch auf dem Feld. Hungersnöte, Epi- demien und Brotaufstände waren die unausweichlichen Folgen.
Aus heutiger, wissenschaftlicher Perspektive ist die Ursache dieser plötzlichen klimatischen Veränderung, die sich vom späten 16. bis, je nach Schätzung, ins späte 17. oder sogar frühe 19. Jahrhundert erstreckte, völlig ungeklärt. Aus vorwissenschaftlicher Sicht sah die Frage freilich ganz anders aus. Da Gottes Schöpfung in
Unordnung geraten war, schien es nur logisch, dass der Herr seine Geschöpfe züchtigte, indem er ihnen schlechtes Wetter schickte. Zahllose Bußpredigten und Gottesdienste, Prozessionen und Kirchenlieder zeugen vom Bemühen ganzer Gemeinden, den Schöpfer milde zu stimmen. Auch die Hexenverfolgungen standen häufig in direktem Zusammenhang mit der Abkühlung: Auf fast jeden besonders strengen Winter folgte besonders in Mitteleuropa eine Welle von Hexenprozessen, bei denen den Beschuldigten immer wieder vorgeworfen wurde, nicht nur das Vieh krank zu machen und Unzucht mit dem Teufel zu treiben, sondern die Ernte zu verderben und extreme Wetterereignisse wie Frühjahrshagel oder schwere Gewitter verursacht zu haben.
Die gesamte soziale Pyramide wurde von diesen Ereignissen schwer getroffen. Für die arme
Landbevölkerung, die von Subsistenzlandwirtschaft lebte, war die Katastrophe unmittelbar ersichtlich. In den Städten führten hohe Getreidepreise zu inflationären Preisanstiegen und gelegentlich zu Aufständen. Für den Adel bedeutete der Ausfall an Steuereinnahmen eine Schwächung der eigenen Position und im Falle vieler Herrscherhäuser eine steigende Verschuldung.
Quelle Bundeszentrale politische Bildung
Zeiten des Klimawandels - Ein historischer Brückenschlag
von der kleinen Eiszeit bis heute - Essay Philipp Blom
Gletscherprozession zum Mittelbergferner in Tirol, 1898,
Hans Wieland, München