Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war... 

 

Früher war alles besser!“ 

Wer hat diesen Satz nicht schon einmal gehört oder sogar selbst ge-

dacht? Gerade in unsicheren Zeiten versuchen Menschen, sich durch

die Erinnerung an vergangene Zeiten ein Stück Sicherheit und Gebor-

genheit zurückzuholen. Das erklärt auch den aktuellen Erfolg von Serien wie „Stranger Things“, die mit ihrer 80er- und 90er-Jahre-Nostalgie vermeintlich bessere, einfachere Zeiten zurück ins Gedächtnis rufen und das Publikum an seine eigene Kindheit und Jugend erinnern.

Georg Büchner hat dieses Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit, nach einfachen und überschaubaren Strukturen und nach den „guten alten Zeiten“ bereits im 19. Jahrhundert erkannt – und dazu eine teils luftig-leichte, teils bitterböse Satire geschrieben. Sein einziges Lustspiel „Leonce und Lena“ beginnt in den fiktiven Königreichen Popo und Pipi, wo ein vermeintlich aufgeklärter und philosophisch schwadronierender König seine „nicht denkenden“ Untertanen in mittelalterlichen Zuständen leben lässt. Sein Sohn Leonce und dessen Verlobte Lena sind dagegen mit ihren eigenen Problemen beschäftigt:Sie  sollen miteinander verheiratet werden, auch wenn sie sich gar nicht kennen und lieben. Ihren Tag verbringen sie ansonsten in gepflegter, wohlstandsprivilegierter Langeweile, mit einer großen Furcht vor Verantwortung und dem Erwachsenwerden, romantischen Gedanken  an Musik, die große Liebe und einer Faszination für den Tod – wie so viele typische Teenager  

zu Büchners Zeit und auch heute. Der Hofstaat des Reiches Popo gleicht einem Kasperltheater, in dem unfähige und  Adelige über das Leben ihres Volkes bestimmen. In einem sehr kurzlebigen Akt des jugendlichen Aufbegehrens flüchten Leonce und Lena aus ihrer Komfortzone und an das Lieblingssehnsuchtsziel der Deutschen: Italien. In der Inszenierung des Freien Theaters Murnau wird die romantische Vorstellung vom südländischen Urlaubsland zu einem 80er-Jahre-Freizeitclub mit Poollandschaft, rosa Schwimmtieren und Hotelbar mit Musik. Wer würde dieses nostalgische „Paradies“ schon verlassen wollen, um vor der Hoteltür auf das wahre, vielleicht etwas ungemütlichere Leben zu stoßen?  der südlichen Sonne passiert natürlich, was passieren muss: Die beiden treffen und verlieben sich, ohne sich zu erkennen. In einem scheinbar revolutionären Akt  schaffen sie es, sich verheiraten zu lassen – um dann zu erkennen, dass sie nur das getan haben, was man die ganze Zeit von ihnen erwartet hat. Die Empörung über diesen „Betrug“ ist schnell vergessen: Zu verführerisch sind die „Spielzeuge“, die dem neuen Herrscher Leonce und seiner Gemahlin in die Hände gegeben werden. In den Schlussworten des Stückes beschwören sie ein Paradies der Faulheit, des Genusses und des immer währenden Sonnenscheins...

Und beim Leser oder Zuschauer von Büchners Stück schleicht sich die Befürchtung ein, dass Leonce und Lena ähnlich „verantwortungsvoll“ mit ihrer Macht umgehen werden wie die Erwachsenen. Von ihnen haben sie ihre Macht erhalten, und wie sie wollten sie eigentlich nie werden. Diese meisterhafte Verknüpfung von traditionellen Komödienelementen und beißender, gesellschafts- und generationskritischer Satire macht Büchners Lustspiel heute aktueller denn je – und entlässt die Zuschauer mit der Frage:

War früher wirklich alles besser – sogar die Nostalgie?

 

Chiara Nassauer